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Bedeutende Zeugnisse hochmittelalterlichen Kunstschaffens aus Gerbstedt werden konserviert und erforscht

Jul 1, 2020 #Archäologie, #Gerbstedt

Im Bereich der ehemaligen Klosterkirche von Gerbstedt (Mansfelder Land) kamen vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mehrere Hundert Fragmente von hochwertigen mittelalterlichen Stuckreliefs zum Vorschein, die sich größtenteils im Bestand des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt befinden. Bereits auf den ersten Blick handelt es sich um Bruchstücke von Figuren und Ornamenten unterschiedlicher Dimension und von hoher Qualität. Die großzügige Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglicht es nun erstmals, diesen bedeutenden Fundkomplex zu konservieren, wissenschaftlich zu erfassen und zu publizieren.

Aus der ehemaligen Klosterkirche in Gerbstedt (Landkreis Mansfeld-Südharz) konnten Mitte des 19. Jahrhunderts und bei Ausgrabungen in den 1970er und 1990er Jahren mehrere Hundert Stuckfragmente aus dem Hochmittelalter geborgen werden. Die Kirche des 985 gegründeten Klosters war nach seiner Aufgabe im 16. Jahrhundert bereits 1650 eingestürzt und 1805 endgültig vom Erdboden verschwunden. Vermutlich barg die untergegangene Kirche eine Grablege der frühen Wettiner. Auch einige Äbtissinnen des Klosters stammten aus dem Hause der Wettiner.

Neun der Stuckfragmente befinden sich heute im Bode-Museum zu Berlin, während die übrigen im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt aufbewahrt werden. Die Fragmente, die wohl aus dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts stammen, zeigen ornamentale und figürliche Darstellungen unterschiedlicher Dimension und von hoher Qualität.

Dank der großzügigen Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung kann der bedeutende und noch kaum bekannte Fundkomplex erstmals konserviert und für eine öffentliche Präsentation vorbereitet werden. So soll eine repräsentative Auswahl der Gerbstedter Stuckfragmente 2021 Teil des neuen Abschnittes der Dauerausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle (Saale) werden. Im Vorfeld erfolgt ihre Restaurierung sowie die nun mögliche umfassende technologische, naturwissenschaftliche und kulturhistorische Untersuchung, deren Ergebnisse in einem Bestandskatalog publiziert werden sollen. Artikel einschlägiger Wissenschaftler aus einem interdisziplinären Team werden diesen ergänzen und den Fundkomplex in seinen kulturhistorischen Kontext einordnen.

»Die Ernst von Siemens Kunststiftung unterstützt seit ihrer Gründung die Erarbeitung und den Druck von Bestandskatalogen, die eine wichtige Grundlage der Museums- und Ausstellungsarbeit darstellen. Nach der Förderung der Bestandserschließung der Berliner Gipsformerei und einer Ausstellung zum 150-jährigen Jubiläum der Abgusssammlung München schließt sich die Katalogisierung der mittelalterlichen Stuckplastiken aus der ehemaligen Klosterkirche zu Gerbstedt diesen Forschungen zu einem unterschätzten Werkstoff an. Die 400 erfassten Gipsfragmente liefern nicht nur neue Erkenntnisse zu den Bildprogrammen mittelalterlicher Architektur im Harzraum, sondern liefern neue Erkenntnisse zur hochmittelalterlichen Skulptur in Deutschland«, freut sich Dr. Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung.

Die Gerbstedter Stuckfragmente stammen wohl von einem komplexen Bildprogramm im östlichen Bereich der untergegangenen Kirche. Die Figurendarstellungen lassen drei verschiedene Maßstäbe und unterschiedliche Zusammenhänge erkennen, so etwa schreitende und frontal ausgerichtete oder in einer Kleinarchitektur angeordnete Figuren. Unter den Bruchstücken mit verschiedenen Tierdarstellungen ragen gelängte Drachenfiguren hervor, die wohl einem ursprünglichen horizontalen Band im unteren Wandbereich zuzuordnen sind. Reststücke vegetabiler Ornamente zeugen von Friesen, Rahmungen und Bogeneinfassungen sowie flächigen Wandverkleidungen.

Der Gerbstedter Fundkomplex nimmt eine herausragende Rolle innerhalb der deutschen Stuckplastik ein, ist doch der Harzraum eine der großen mittelalterlichen Stucklandschaften Europas. Im Zeitraum vom 9. bis zum späten 13. Jahrhundert bildete sich hier ein einzigartig breites und vielfältiges Kunstschaffen heraus, das von verzierten Fußbodenarbeiten über Bauplastik bis hin zu unterschiedlichen Ausgestaltungen von Wänden und Gewölben reichte. Voraussetzung hierfür ist die besondere Materialeigenschaft des verwendeten, aus den umfangreichen Lagerstätten des Harzes stammenden Hochbrandgipses, der ein einmaliges Bearbeitungsspektrum von Guss über Modellierung bis hin zu Schnitzen und steinmetzmäßiger Ausarbeitung erlaubt. Der Großteil der Stuckarbeiten aus dieser Region hat sich in Sachsen-Anhalt erhalten, wozu auch überregional beachtete Hauptwerke des mittelalterlichen Kunstschaffens zählen, wie etwa das Heilige Grab in der Stiftkirche zu Gernrode. Die technische Qualität, die Größe und die vielfältigen Formen der Gerbstedter Fragmente weisen darauf hin, dass es sich um ein ebenso komplexes und hochqualitätvolles Bildprogramm handelte. Mit den bereits begonnenen Untersuchungen ist zu erwarten, dass ein weiteres monumentales Werk im Bereich der romanischen Skulptur erschlossen werden kann.

Unmittelbare Vergleiche zu den Plastiken in Gerbstedt finden sich in der Stiftskirche zu Quedlinburg und in Apostelfiguren aus dem Kloster Clus (heute Gandersheim). So gleichen die Gewänder auf Stuckgrabsteinen von Quedlinburger Äbtissinnen denen der Gerbstedter Figuren. Ein Fries mit Vögeln und Sternbildern von einer Quedlinburger Chorschranke scheint ähnlich auch in Gerbstedt geformt worden zu sein.

Erste restauratorische Untersuchungen ergaben, dass die Stuckausstattung aus mehrlagig auf das Mauerwerk aufgetragenem Hochbrandgips besteht, aus dem die vielfältigen Motive mit sicherer Hand herausgeschnitten wurden. Die so entstandenen Reliefs und Skulpturen zeigen eine große plastische Bandbreite und beeindrucken durch ihre klare Formensprache und ihren Detailreichtum. Farbreste an wenigen Fragmenten weisen darauf hin, dass die Gerbstedter Stuckplastik einst zumindest teilweise bemalt war, also ein eher vielfarbiger als rein marmorweißer Eindruck vorlag. Dies zeigt sich beispielsweise an den Augen von Personen und Drachen, wo sich schwarz ausgemalte Pupillen erhalten haben. Aber auch die Architektur und die Kleidung der Figuren weisen farbige Stellen in Rottönen, Schwarz und Ockergelb auf.

Es können mindestens 13 verschiedene ornamentale Bänder rekonstruiert werden, die einst größere Bildfelder rahmten und deren Vorbilder teilweise sogar in Italien und dem Alpenraum zu suchen sind. So finden sich als mögliche Vorläufer etwa Formen ähnlich den Stuckornamenten in Cividale im Friaul oder den Wandmalereien im Kloster Müstair im Kanton Graubünden. Manche der Gerbstedter Friese bilden Bögen mit teilweise beträchtlicher Spannweite, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie größere Arkadenstellungen einfassten. Nachweislich befanden sich Einzelfiguren in den Bogenzwickeln, andere ragten aus dem eigentlichen Bildfeld in die Rahmung hinein.

Da aufgrund der Bebauung des Geländes der untergegangenen Kirche nur kleine Teile des Areals ausgegraben werden konnten, besitzen wir nur einen Bruchteil des ursprünglichen Kunstwerks. Eine klare Identifizierung der Szenen ist daher nicht möglich, jedoch gibt es zahlreiche Indizien. Ein mit etwa einem halben Meter Kantenlänge zu den größten Fragmenten gehörendes Stück kann eindeutig als Bett mit einer wohl nackten, männlichen Figur angesprochen werden. Das kann auf eine Szene beispielsweise mit der Darstellung des Traums der Heiligen Drei Könige hinweisen. Auch waren mehrere Gefäße in den Szenen zu sehen, die hauptsächlich in Bildern mit den Heiligen Drei Königen oder der Grablegung und Auferstehung Christi vorkommen. Die zahlreichen Architekturfragmente gehörten zu Themen, in denen Städte – zum Beispiel Jerusalem oder Bethlehem – eine Rolle spielten.

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